"Zwischen Parteipolitik und Wissenschaft: Geschichtsschreibung im Norden" (Stockholm, 10.04.2002)

"Zwischen Parteipolitik und Wissenschaft: Geschichtsschreibung im Norden" (Stockholm, 10.04.2002)

Organisatoren
Archiv der Arbeiterbewegung
Ort
Stockholm
Land
Sweden
Vom - Bis
10.04.2002 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Norbert Goetz, Lehrstuhl für Nordische Geschichte, Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald

Parteipolitik, wirtschaftliche Interessen und Wissenschaft - eine Konferenz des Archivs der Arbeiterbewegung, Stockholm (10. April 2002)

Archiv und Bibliothek der Arbeiterbewegung in Stockholm feiern in diesem Jahr als weltweit älteste Einrichtung dieser Art hundertsten Geburtstag. Im Zentrum des Jubiläums steht eine Serie von Konferenzen, unter anderem zu Alva Myrdal und - im Oktober - zum Thema "The International Labour Movement on the Threshold of Two Centuries". Die in den skandinavischen Sprachen geführte Tagung "Zwischen Parteipolitik und Wissenschaft - Geschichtsschreibung im Norden", die am 10. April im Hause des Arbeiterbildungsverbands in Stockholm stattfand, steht in diesem Zusammenhang. Organisiert wurde sie von Klaus Misgeld, Thorsten Nybom, Åsa Linderborg und Samuel Edquist. Für das Archiv der Arbeiterbewegung hatte sie, wie Misgeld zu Beginn hervorhob, insofern eine besondere Bedeutung als das Archiv im nicht immer spannungsfreien Feld von Politik und Wissenschaft agiert.

Kein Zweifel, im wesentlichen diente die Tagung der Selbstreflexion von Wissenschaftlern, die der Arbeiterbewegung nahe standen. Angesichts des Rahmens war dies kaum verwunderlich. Kritik, die einzelnen Themen würden das politische Spektrum nicht angemessen abdecken, wurde gleichwohl geäußert. Neben Vorträgen zu den unterschiedlichen Zweigen der Arbeiterbewegung, Gewerkschaften, Sozialdemokratie, Linkssozialisten waren aber durchaus auch Beiträge zu den schwedischen Konservativen und zur Wirtschaft vertreten (Parteipolitik schloss hier also die Arbeitsmarktparteien mit ein).

Denkenswerter war der allgemeine Befund Torbjörn Nilssons, der in der Stockholmer Universitätsbibliothek die Regale mit Forschungsliteratur zu politischen Ideologien abgezählt hatte: 25 Regale finden sich dort zum Thema Sozialismus, 3½ zum revolutionären Sozialismus und Kommunismus, ebenfalls 3½ zum Liberalismus und je 1½ zum Konservatismus und zum freiheitlichen Anarchismus und Syndikalismus. Dass die Frage nach dem Verhältnis von Parteipolitik und Wissenschaft in Schweden vor allem die Arbeiterbewegung betrifft, wurde durch diese Zahlen anschaulich illustriert. Der Auffassung des Konservatismus-Forschers Nilsson, die Sozialdemokratie in Schweden sei übererforscht, vor allem werde aber ihre Bedeutung überschätzt, widersprach Thorsten Nybom. Da die Einzigartigkeit der schwedischen Verhältnisse (das heißt die alltagskulturelle Hegemonie der Sozialdemokraten) bislang noch nicht hinreichend erklärt worden sei, müsse man vielmehr ein zuwenig an Forschung über die Sozialdemokratie beklagen.

Klas Åmark schloss seinen einleitenden Beitrag zur historischen Forschung über Arbeit, Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur in Skandinavien mit der Beobachtung, dass sich das wissenschaftliche Interesse gegenwärtig von diesen Gegenständen entferne und eher auf Objekte wie den Wohlfahrtsstaat richte. Auch der nachhaltige Einfluss internationaler wissenschaftlicher Konjunkturen - Stichworte etwa: Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, kulturelle Wende, Feminismus, Diskursanalyse und Postmodernismus - zeige eine relative Unabhängigkeit der Forschung von der Politik. Auf eine schlichte Gegenüberstellung wollte sich Åmark aber nicht einlassen: Der Politik räumte er einen legitimen Wissensbedarf ein, und umgekehrt benötige (und habe) jeder Historiker einer politischen Perspektive. Verwundert zeigte sich Åmark, dass die herrschende skandinavische Geschichtsschreibung über die Arbeiterbewegung mit ihrem "labourist approach" bislang noch keine ernsthafte Herausforderung von konservativer oder neoliberaler Seite erfahren habe.

Niklas Stenlås versuchte in gewisser Weise herauszufordern, allerdings nicht durch eine Neubewertung der Arbeiterbewegung, sondern durch den Vorwurf der Machtverfallenheit der Wissenschaft (die sich vor den Karren des sozialdemokratischen Gesellschaftsprojekts spannen ließe), den er mit einem Appell an Wertfreiheit und Berücksichtigung sämtlicher Akteure verband. Widerspruch erntete Stenlås vor allem mit seiner Darstellung einer im Gegensatz zur clevereren Arbeiterbewegung an Geschichtsschreibung vollkommen desinteressierten Wirtschaft. Gewagt war diese These nicht nur angesichts des Umstands, dass sich Åsa Linderborg, die ihr gerade begonnenes Forschungsprojekt zur wirtschaftsnahen Geschichtsschreibung vorstellte, über die Masse potentieller Quellen beklagte. Knut Einar Eriksen, der Leiter des Archivs der Arbeiterbewegung in Oslo, wies zudem auf die florierende Auftragsforschung im allgemeinen und der Wirtschaft im besonderen hin, und seine Stockholmer Kollegin Karin Englund machte auf die von den Unternehmen gut belieferte Einrichtung "Företagsminnen" (Unternehmenserinnerungen) aufmerksam.

Gemeinsamkeiten der Interessen von Arbeiterbewegung und Unternehmen an der Geschichte waren bereits beim Vortrag eines der dänischen Gäste deutlich geworden. Knud Knudsen kritisierte neuere Gewerkschaftsgeschichten seines Landes nicht nur mit den Worten, diese seien "so sozialdemokratisch, dass es weh tut", sondern pflichtete der Auffassung bei, dass sich sein Forderungskatalog für die zukünftige Forschung im Grunde für eine Synthese mit der Unternehmensgeschichte anbiete: Gefragt hatte er nach einer stärkeren Konzentration auf die Geschichte der Mitglieder, auf die Arbeitsplatzbedingungen, auf das Verhältnisses von Arbeiter und Arbeit, sowie auf die Themen Qualifikationen und Tarifverträge.

Dass Parteipolitik "weh tun" kann, führte schließlich auch der finnische Gewerkschaftshistoriker Tapio Bergholm anschaulich vor Augen. Mit seinem Bericht einer traumatischen Teilnahme an einem Sommerlager der schwedischen Jungsozialisten zur Zeit der bürgerlichen Regierung im Wahljahr 1979 machte er zugleich auf nichtintendierte Folgen parteipolitischen Handelns und auf die Dimension persönlicher Erfahrungen für die Wahl wissenschaftlicher Erkenntnisstrategien aufmerksam. Jeden Morgen, so berichtete (und sang) Bergholm, sei er im Lager von Sprechchören geweckt worden: "Schweden braucht eine sozial-demokratische Regierung". Sein lebensweltorientierter Ansatz, der erklärtermaßen mit der Angst vor dem "Abgrund der politischen Geschichte" verbunden ist, geht, so vermutete er selbst, wahrscheinlich auch auf die mit dieser Erfahrung verbundene nachhaltige Verstörung zurück.


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